Europäisches Parlament im Wandel

Kommentar

Das Parlament ist pluralistischer und diverser geworden, was auch Chancen für dessen zukünftige Arbeit bedeuten kann. Die Grünen werden im neugewählten Parlament in einer proeuropäischen Allianz eine wichtige Rolle spielen.

Europäisches Parlament, Europäisches Haus Berlin am Brandenburger Tor

Europäisches Parlament im Wandel

In Brüssel war kurz nach der Bekanntmachung der ersten Hochrechnungen zur zukünftigen Sitzverteilung im Europäischen Parlament viel von der Notwendigkeit eines Wandels die Rede. Trotz deutlicher Verluste der zwei stärksten Fraktionen, der Europäischen Volkspartei (EVP) und der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D), gaben sich deren Spitzenkandidaten Manfred Weber und Frans Timmermans zuversichtlich: Noch in der Wahlnacht sprach Weber davon, wie wichtig es jetzt sei, das Krisendenken zu beenden und mit einer positiven Vision zu starten. Auch Timmermans erwähnte die Verantwortung, etwas Positives zu tun und sich zusammenzusetzen. Als Spitzenkandidaten der zwei noch immer stärksten europäischen Parteien im Parlament erheben beide Anspruch auf den Posten des EU-Kommissionspräsidenten. Auch wenn der Europäische Rat nach Art. 17 Abs. 7 des EU-Vertrags dazu verpflichtet ist, das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament bei seinem Vorschlag für den Vorsitz der Kommission zu berücksichtigen, ist dessen Besetzung allerdings alles andere als ein Automatismus.

Machtmonopol gebrochen

Es gibt noch weitere Personen, die ihren Hut in den Ring geworfen haben bzw. als geeignete Vorsitzende der Europäischen Kommission gehandelt werden: Allen voran die Liberale Margrethe Vestager, derzeit dänische EU-Kommissarin für Wettbewerb, die nach den Reden der zwei Spitzenkandidaten eine klare Botschaft aussprach: Neue Koalitionen können gebildet werden, es komme nun darauf an, sich dem Wandel zu stellen, denn das Machtmonopol sei gebrochen. Klar ist: Die EVP und S&D können die Spitzenposten der EU nicht mehr unter sich verteilen, denn die dafür nötige Mehrheit von 376 Sitzen haben diese beiden Fraktionen verloren. Man konnte in den letzten Tagen oft hören, dass die Fragmentierung im Europäischen Parlament zugenommen habe, was einen negativen Beigeschmack auslöst, weil es nach Handlungsunfähigkeit klingt. Es gibt aber auch eine positivere Interpretation der Sachlage: Das Parlament ist pluralistischer und diverser geworden, was auch Chancen für dessen zukünftige Arbeit bedeuten kann.

Zugewinne für Liberale und Grüne

Deutlich gestärkt gehen aus diesen Wahlen die Liberalen und Grünen hervor. Da es derzeit über 20 Abgeordnete gibt, die noch nicht in den Berechnungen über die zukünftige Größe der Fraktionen berücksichtigt wurden und die Verhandlungen mit neu im Parlament vertretenen Parteien noch laufen, sind die Zahlen nicht endgültig. In den vorläufigen Ergebnissen (siehe europawahlergebnis.eu) werden von den insgesamt 751 Sitzen 105 den Liberalen und 69 den Grünen zugeteilt. Rechnerisch haben die EVP, S&D und Liberalen eine einfache Mehrheit inne, die für die Wahl der Präsidentin oder des Präsidenten der Kommission durch das Parlament nötig ist. Es könnte aber auch zu einer breiteren, proeuropäischen Allianz mit den Grünen kommen. Auf jeden Fall werden die Grünen im neu gewählten Parlament eine wichtige Rolle spielen. Denn ein weiterer Wandel war im Wahlkampf und in der Wahlnacht in aller Munde: der Klimawandel. Die Proteste der letzten Wochen und Monate, die Schlagkraft der Fridays for Future haben im Wahlkampf in einigen Parteien Nervosität ausgelöst und auch ein Umdenken eingeleitet. Noch nie wurden die Risiken des Klimawandels von so vielen Parteien als Thema im Wahlkampf aufgenommen. Noch nie haben sich so viele Parteien dem Klimaschutz als Priorität verpflichtet. Sicherlich haben die Grünen von diesen Entwicklungen profitiert, da die Wählerschaft beim Klimathema vor allem den Grünen zutraut, Lösungen auf den Weg zu bringen.

Ein Europa für Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit

Die grüne Fraktion ist die einzige Fraktion im Europäischen Parlament, die sich seit Jahrzehnten mit viel Expertise und Engagement für eine ambitionierte und zukunftsfähige europäische Energie- und Klimaschutzpolitik einsetzt – trotz des massiven Gegenwindes, der ihr im Europäischen Parlament entgegenkam. Auch wenn es nun zahlreiche Beteuerungen anderer Fraktionen für mehr Klimaschutz gibt, ist die EU noch weit von ambitionierten Zielen und Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels entfernt. Es wird in diesem Zusammenhang also vor allem auf die Grünen ankommen. Die Tatsache, dass der Klimaschutz endlich als Priorität auf der politischen Agenda gelandet ist, stellt für sie in der kommenden Legislaturperiode eine Chance dar, weitere, mit dem Klimaschutz zusammenhängende Politikbereiche im Parlament voranzubringen, darunter eine nachhaltige EU-Agrarpolitik, eine verantwortliche EU-Haushaltsplanung, zukunftsorientierte Mobilität sowie eine faire Handelspolitik. Wichtig zu erwähnen ist, dass die Grünen nicht ausschließlich als „Klimapartei“ wahrgenommen werden möchten. Das grüne Spitzenteam Ska Keller und Bas Eickhout betonte daher auch, worauf es ihrer Fraktion im neu gewählten Parlament ankomme: Darum, Themen zu diskutieren und sich in folgenden Bereichen für mehr Europa einzusetzen: Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit. Von der Wählerschaft, so Keller und Eickhout, haben die Grünen das Mandat erhalten, in diesen Politikfeldern einen Wandel einzuleiten.

Der rechte Rand

Auch wenn die Zugewinne der rechtsnationalen Parteien nicht so hoch ausgefallen sind wie in vielen Umfragen angenommen, geben sie dennoch Anlass zu großer Sorge. Für die demokratischen, proeuropäischen Kräfte im Europäischen Parlament stellt diese gewachsene destruktive Minderheit eine der größten Herausforderungen der nächsten fünf Jahre dar. Es ist derzeit noch unklar, ob es den Parteien am rechten Rand gelingen wird, eine größere Fraktion zu gründen. Im scheidenden Parlament sind Rechtsaußen-Parteien in mehreren Fraktionen vertreten: Die italienische Lega, die französische Partei Rassemblement National, die österreichische FPÖ und die separatistische Regionalpartei Vlaams Belang (Flämische Interessen) sitzen in der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF). Die polnische PiS, die Dänische Volkspartei, Wahren Finnen und Schwedendemokraten sind Mitglieder der Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR). Die Brexit-Partei und die AfD sitzen in der von UKIP und der Fünf-Sterne-Bewegung gegründeten Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD). Diese Fraktionen werden sich im neu gewählten Parlament neu sortieren und um neue Mitglieder werben. Weder die ENF noch die EFDD erfüllen nach den Wahlen die Bedingungen für die Anerkennung des Fraktionsstatus, der 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten voraussetzt. Auch wenn nach derzeitigem Stand der Sitzverteilung allen drei Fraktionen weit über 25 Abgeordnete zugeteilt werden (EKR: 63, ENF: 58, EFDD: 54), wurden nur fünf Parteien der ENF und drei Parteien der EFDD ins neue Parlament gewählt. Matteo Salvini und Marine Le Pen werden voraussichtlich keine Probleme haben, neue Mitgliedsparteien zu werben, unter ihnen die AfD. Offen ist aber die Frage, wie es mit der EFDD und insbesondere der Brexit-Partei weitergehen wird, die mit 29 Sitzen eine der stärksten Delegationen stellt. Sollte es Ende Oktober zu einem Brexit kommen, werden 27 Mandate der insgesamt 73 Sitze des Vereinigten Königreichs auf die verbleibenden Mitgliedstaaten umverteilt, 46 sollen als Reserve für zukünftige Erweiterungsrunden zurückgehalten werden.

Wer will Viktor Orbán?

Auch in der EVP sitzt eine Partei, die dem Rechtsaußen-Spektrum zugeordnet werden muss: Die Abgeordneten der ungarischen Partei Fidesz nehmen bisher in der EVP-Fraktion Platz. Nach einer Hetzkampagne gegen George Soros und Jean-Claude Juncker wurde die Mitgliedschaft von Fidesz im März 2019 suspendiert. Die Tatsache, dass es der EVP in den letzten Jahren nicht gelang, sich durch Worte und Taten eindeutig von dem offensichtlichen Demokratieabbau in Ungarn zu distanzieren, spricht nicht für deren Fraktionsvorsitzenden Manfred Weber. In Brüssel wartet man gespannt auf die Beantwortung der Frage, in welcher Fraktion die 13 Fidesz-Abgeordneten im neuen Parlament sitzen werden. Am 31. Mai gab Orbán bekannt, für ihn sei die entscheidende Frage, ob seine Partei als Mitglied der EVP deren Ausrichtung beeinflussen könne. Einen Tag zuvor hatte sein Kanzleramtsminister Gergely Gulyás schon verkündet, dass die ungarische Regierung Matteo Salvini respektiere, auf Parteiebene aber keine großen Chancen für eine Zusammenarbeit oder eine gemeinsame Fraktion sehe. Die Botschaften der ungarischen Regierung wurden in einigen Medien als Versuch Orbáns gedeutet, sich mit der EVP zu versöhnen. In Anbetracht der oben beschriebenen Mehrheitsverhältnisse ist es derzeit allerdings so gut wie ausgeschlossen, dass es im Interesse der EVP sein könnte, weiterhin mit den Fidesz-Abgeordneten zusammenzuarbeiten. Für die S&D, die Liberalen und Grünen ist eine der wichtigsten Bedingungen für die Verhandlungen mit der EVP, dass Fidesz nicht mehr Mitglied der EVP ist. Orbáns Forderung, die EVP müsse Teil einer „Allianz der Antieinwanderungsparteien“ werden, deckt sich nicht mit den Ambitionen Manfred Webers, Kommissionspräsident zu werden. Interessanterweise signalisierte die EKR noch am Wahlabend Interesse an einer zukünftigen Zusammenarbeit mit Orbán. Nach einem Fidesz-Beitritt wären alle Staaten der Visegrád-Gruppe in der EKR versammelt, über die Orbán seinen Einfluss in der EU weiterhin ausweiten möchte. Ob Orbán das Angebot der EKR annehmen oder ob er sich an der Gründung einer neuen Fraktion beteiligen wird, bleibt abzuwarten. Sein vielfach geäußerter Wunsch, den zukünftigen Kurs der EVP zu prägen, erscheint derzeit wenig realistisch.

Wie geht es weiter?

Der Europäische Rat wird dem Parlament in den nächsten Wochen eine Person für den Vorsitz der Europäischen Kommission vorschlagen. Bis Ende Juni könnte die Entscheidung fallen. Der Präsident des Europäischen Rats Donald Tusk erhielt von den Staats- und Regierungschefs den Auftrag, mit dem Parlament Sondierungsgespräche zu führen. Die Verhandlungen werden alles andere als einfach werden. Für das Verfahren gilt: Der Europäische Rat muss sich mit qualifizierter Mehrheit auf eine Kandidatin oder einen Kandidaten für den Kommissionsvorsitz einigen, d.h. 55 Prozent der Mitgliedstaaten müssen für den Vorschlag stimmen, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung ausmachen. Bestätigt ist die Person als Präsidentin oder Präsident der Kommission erst dann, wenn das Parlament diesem Vorschlag mit der Mehrheit seiner Mitglieder zustimmt.

Der französische Präsident Emmanuel Macron spricht sich gegen das Spitzenkandidatenprinzip aus und macht keinen Hehl daraus, dass er Weber als Kommissionspräsidenten für ungeeignet hält. Auf dem Weg zum informellen Abendessen der Staats- und Regierungschefs am 28. Mai gab er bekannt, dass er sich Vestager, Timmermans oder den Brexit-Beauftragten der EU Michel Barnier als Vorsitzende bzw. als Vorsitzenden der Kommission vorstellen könne. Es ist kein Zufall, dass Weber in seiner Aufzählung fehlte. Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte sich zwar hinter Weber und das Spitzenkandidatenprinzip, signalisierte allerdings auch, dass diese Unterstützung Grenzen hat. Sie forderte dazu auf, tolerant und kompromissbereit zu sein, und sprach sich für eine Konsensentscheidung aus. Denn die Besetzung der Spitzenposten der EU ist eine hochpolitische Angelegenheit. Die wichtigsten EU-Ämter sind die Vorsitzenden der Kommission, des Parlaments, des Europäischen Rats und der Europäischen Zentralbank sowie die Hohe Vertreterin bzw. der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Es wird in den nächsten Wochen darauf ankommen, einen politischen Kompromiss herbeizuführen, der sowohl vom Europäische Parlament als auch vom Europäischen Rat getragen wird. Das Wahlergebnis und ein Blick auf die politischen Machtverhältnisse im Europäischen Rat zeigen: Einen Kompromiss gegen die EVP, S&D oder die Liberalen kann es nicht geben.

Die gestiegene EU-weite Wahlbeteiligung wird zu Recht als ein positives Signal für die Zukunft der Demokratie in der EU gewertet. Das Parlament wird dadurch gegenüber dem Europäischen Rat gestärkt. Es wäre allerdings ein fatales Signal an die Bürgerinnen und Bürger der EU, wenn es in den nächsten Wochen nicht zu einem konstruktiven Kompromiss, sondern zu endlosen Streitigkeiten über die Besetzung der Spitzenposten kommen würde. Die Botschaft der demokratischen, proeuropäischen Kräfte sollte vielmehr lauten: Gemeinsam sind wir in der Lage, die Agenda eines politischen Wandels auf den Weg zu bringen, durch den die EU in einer zunehmend komplexen Welt als positive Kraft eine wichtige und gestaltende Rolle einnehmen wird.