Ein türkischer Freund unkte neulich: „Woher weiß man, dass die Europawahlen nicht den Willen der Bevölkerung repräsentieren? Erdoğan hat nicht gewonnen!“
Die Türken, von denen viele durch die vielen Wahlen der letzten Jahre und den jüngsten Skandal um die Annullierung der Istanbuler Bürgermeisterwahlen (Begründet damit, dass sie nicht den Bürgerwillen repräsentieren würden.) reichlich zynisch geworden sind, was demokratische Wahlen angeht, nahmen von der Europawahl kaum Notiz. Man kann vermuten, dass es daran liegt, dass zum Thema EU-Türkei eigentlich alles Wesentliche gesagt ist:
Die EU hat sich nicht für eine Mitgliedschaft interessiert, als die Türken sie noch wollten. Jetzt interessiert sich die türkische Regierung nicht mehr dafür und beide Seiten behaupten in regelmäßigen Abständen das Gegenteil. Zuletzt versuchte sich der türkische Außenminister Cavuşoğlu wieder an einer solchen Volte. In einem Meinungsbeitrag im Magazin Politico forderte er die EU auf, doch endlich die Beitrittsgespräche voranzutreiben, die Türkei und die EU, das wären einfach Partner die zusammengehören würden. Er nahm Bezug auf geplante Reformen besonders im Justizsektor, die der Präsident nur wenig später ankündigte.
Allein, jedem kritischen Beobachter fehlt der Glauben, dass dieser Reformeifer wirklich substantielle Veränderungen hervorbringen wird. Die türkische Regierung hat die letzten Jahre dafür genutzt, um den türkischen Rechtsstaat erfolgreich auszuhöhlen. Versprechen, die man jetzt gibt, die eine Rückkehr zur EU Mitgliedschaft einläuten sollen, wie etwa einen neuen Menschenrechtsaktionsplan aufzustellen, sind nicht mehr als ein politisches Feigenblatt. Der jährliche EU Fortschrittsbericht, der passenderweise nur einen Tag vor Erdoğans Ankündigung veröffentlicht wurde, wird vor allem von einem Wort durchzogen: Rückschritt! Im Bericht beklagt werden die Politisierung der Justiz, die fehlende Angleichung an EU Standards bei der Korruptionsbekämpfung und ein Klima der Einschüchterung für die Zivilgesellschaft.
Europas Rechtsruck erschwert die belasteten Beziehungen weiter
Trotzdem ist der Aufruf des Außenministers, die EU und die Türkei mögen sich doch wieder annähern, natürlich nicht im luftleeren Raum entstanden. In Ankara ist man sich bewusst, dass das neue EU Parlament, aufgrund des Rechtsrucks, nicht nur weniger Sympathien für einen, wenn auch inzwischen reichlich hypothetischen, EU Beitritt haben dürfte, sondern das auch die Chancen für andere Vereinbarungen, wie etwa das langersehnte Upgrade der Zollunion, schwinden.
Die Ankündigung des Kandidaten für den Posten des Kommissionspräsidenten Manfred Weber, die Beitrittsgespräche abzubrechen, ist für die Türkei nicht deswegen kritisch, weil sie selbst einen Beitritt anstreben würde, sondern weil in Zeiten schwächelnder türkischer Wirtschaft ein Abbruch des Prozesses von Investoren sicher nicht positiv bewertet würde. Und so wiederholt die türkische Seite gebetsmühlenartig immer die gleichen Forderungen: Öffnung des Beitrittskapitels zur Justizreform, Einführung der Visa-Freiheit und natürlich den Wunsch nach Vollmitgliedschaft – so als wäre die Debatte und die politische Lage in der Türkei und in der EU irgendwann Mitte der 2000er stecken geblieben.
Türkische Medien, die zumindest am Rande über den Wahlausgang in Brüssel berichteten, bemerkten aber nicht nur, dass der Rechtsruck in der EU die Lage für das bilaterale Verhältnis zur Türkei erschweren könnte, sondern diskutierten auch, was das Anwachsen des nationalistischen Blocks in Europa für die vielen Menschen türkischer Abstammung bedeuten könnte, wenn es darum geht, dass Ausgrenzung und Rassismus eher zunehmen dürften.
Die Türkei braucht die Bindung an Europa
Man könnte annehmen, dass die türkische Regierung, deren Verhältnis zu den meisten EU Staaten (Ausnahmen gibt es etwa in Bulgarien oder Ungarn) von großen Schwierigkeiten geprägt war, froh sein sollte, dass die EU in nächster Zeit erst mal mit sich selbst beschäftigt sein wird und vermutlich nur wenig Energie für ihre Außenpolitik haben wird.
Doch die Türkei ist in einer Zwickmühle. So sehr Präsident Erdoğan auch beschwört eine Art blockfreie Türkei anzustreben und mit der Annäherung an Russland spielt, so ist die Abkoppelung von Europa nicht so einfach möglich. Dies ist nicht nur so, weil die EU (besonders Deutschland und die Niederlande) immer noch die wichtigsten Wirtschaftspartner sind und durch die Diaspora-Gemeinden starke personelle Verknüpfungen bestehen, sondern auch weil die Türkei immer noch auf ein starkes Europa angewiesen ist, was viele ihrer Probleme angeht, gerade jetzt, wo die Allianz mit den USA immer brüchiger wird. Man weiß in Ankara, dass der Umgang mit der oft nervigen EU immer noch einfacher ist, als der mit dem twitternden Wüterich im Weißen Haus.
Die Amerikaner mögen gerade sicherheitspolitisch den größeren Fußabdruck haben, aber die Abhängigkeit ist längst nicht so gegenseitig wie bei der EU, dementsprechend größer ist der Druck dem man standhalten muss bzw. vor dem man in letzter Zeit wiederholt einknicken musste. Und bei Kernthemen wie etwa Flüchtlingen, Syrien oder dem Iran überschneiden sich türkische und EU Interessen wesentlich stärker als mit denen der USA, die an vielen Themen entweder kein direktes Interesse mehr zeigt oder aber deren Interessen denen der Türkei diametral gegenüberstehen.
Zwar rühmt sich Erdogan immer noch eines guten persönlichen Verhältnisses mit Präsident Trump. Doch auch in Ankara ist inzwischen klar geworden, dass Zusagen Trumps nicht zwingend verlässlich sind, wie man am Beispiel Syrienabzug sieht. Und das die Allianz mit Russland auf tönernen Füßen steht, wird aktuell wieder bei der Assad-Offensive auf die von der Türkei verteidigte Enklave Idlib deutlich.
Hoffnungen auf einen EU-Beitritt haben nur wenige
Das bedeutet, das Aufrechterhalten der Beziehungen mit der EU sind ein Muss. Und man ist in Ankara ganz zufrieden, dass Kernstaaten wie Deutschland sich inzwischen auch lieber auf gedeihliche Wirtschaftsbeziehungen konzentrieren wollen, denn auf die türkische Menschenrechtslage. Ob daran ein neues EU Parlament und eine neue Kommission etwas ändern werden, ist fraglich. Man mag sich einig sein zwischen Rechten und Linken in Brüssel, dass die Lage in der Türkei ernst ist, aber die aktuellen Prioritäten liegen klar darauf, weitere Destabilisierung in der Region zu vermeiden, gerade auch, weil man der Ansicht ist, dass die eigenen Einwirkungsmöglichkeiten beschränkter wären, als sie es in der Realität sind.
Der EU Fortschrittsbericht und die Europawahlen sind dementsprechend in der Türkei schnell Geschichte. Auch wenn viele Türkinnen und Türken es immer noch positiv finden würden, in die EU aufgenommen zu werden, die Hoffnung, dass das mal Realität werden könnte, haben nur noch wenige. Und solange man so mit den eigenen Problemen im Land beschäftigt ist und aus der EU wenig Hilfreiches dazu kommt ist auch für viele türkische Bürger und Bürgerinnen Brüssel sehr weit weg.