Europawahlkampagne in Polen – Testlauf für die Parlamentswahlen im Herbst

Hintergrund

Diese Zahlen sprechen für sich: nach 15-jähriger Präsenz ihres Landes in der europäischen Gemeinschaft befürworten 91 Prozent der befragten Polinnen und Polen die Mitgliedschaft Polens in der EU. Lediglich 5 Prozent sind dagegen. 78 Prozent sehen vor allem positive Auswirkungen. Zudem fühlen sich 56 Prozent als Europäer. Ein Anstieg von ca. 13 Prozent im Vergleich zu 2014.

Menschen auf einer Demonstration mit polnischer Fahne

Vor diesem Hintergrund verliert die Debatte um einen drohenden Polexit, die im Zusammenhang mit den rechtsstaatlich bedenklichen Justizreformen der regierenden nationalkonservativen PiS-Partei immer wieder auftaucht, an Brisanz. Die laufende Kampagne zu den Europaparlamentswahlen Ende Mai 2019 bietet eine gute Gelegenheit, die tatsächliche Verfasstheit des politischen Systems und der Bevölkerung unseres östlichen Nachbarlandes mit Blick auf die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

Aufgrund der polarisierenden Politik der PiS-Regierung ist die polnische Parteienlandschaft dadurch gekennzeichnet, dass in den letzten Jahren verstärkt zu Wahlbündnissen kam. Grundsätzlich stehen sich als Hauptkonkurrenten zwar weiterhin die PiS und die liberalkonservative Bürgerplattform (PO) gegenüber. Doch hat letztere eine breitere Europäische Koalition (Koalicja Europejska, KE) geschaffen, die von der Bauernpartei PSL über die postkommunistische SLD und die liberale Nowoczesna (Moderne) sogar bis hin zu den polnischen Grünen eine breite und programmatisch durchaus unterschiedliche Gruppe von Parteien in sich vereint.

Links von der KE werben die neugegründete, progressiv ausgerichtete Partei Wiosna (Frühling) des ehemaligen Parlamentsabgeordneten und Stadtpräsidenten Robert Biedroń sowie die bereits seit 2015 bestehende Partei RAZEM, beide bisher ohne parlamentarische Mandate, um die Gunst der Wählerinnen und Wähler. Letztere ebenfalls in einer Koalition (Lewica Razem) mit mehreren ultralinken Gruppierungen. Im rechten politischen Spektrum ist neben der bereits im Sejm vertretenen Bewegung Kukiz’15 ebenfalls für die Zwecke der Europawahl ein neues Bündnis entstanden: die zumindest in Teilen rechtsextreme Konfederacja (Konföderation). Daneben wurden noch zwei weitere europaskeptische bis -feindliche Wahllisten registriert: die vom Redemptoristenpfarrer Rydzyk inspirierte Bewegung „Echtes Europa – Europa Christi“ und die Koalicja Polexit – beide mit geringen Chancen, aber eine potentielle Gefahr für die PiS.

Auffallend ist, dass es bei den Programmen und Strategien der wichtigsten Listen weitgehend um rein polnische Herausforderungen geht, die zwar europäisch gelöst werden sollen, eine übergeordnete europäische Perspektive dafür jedoch nicht bieten. Darüber hinaus werden oftmals ähnliche Politikbereiche angesprochen, wie z.B. Gesundheitspolitik, Energiepolitik, gleiche Chancen und Lebensstandards für alle EU-Bürgerinnen und Bürger, Regionalentwicklung und nachhaltige Entwicklung. Dennoch werden die Unterschiede deutlich sichtbar. Gleichzeitig ist unverkennbar, dass der Europawahlkampf die Kampagnen zu den Richtungswahlen im Herbst vorbereiten, wenn  die beiden Kammern des polnischen Parlaments Sejm und Senat neu gewählt werden.  Für die PiS geht es um die Zementierung ihrer Macht, für die Opposition um das Rückgängigmachen antidemokratischer Reformen. Dafür spricht auch die Besetzung der Listen von PiS und KE, die eine ungewöhnliche hohe Zahl von amtierenden Ministern bzw. ehemaligen Premierministern enthält.

Getreu ihrem Motto „Polen ist das Herz Europas” will sich die PiS nicht nur maximal für polnischer materieller Interessen in der EU einsetzen, sondern vor allem auch gleiche Qualitätsstandards europaweit erreichen. Es geht vor allem darum, die von der PiS wahrgenommene fehlende Gleichbehandlung zu überwinden: „Wir werden auch deshalb gewinnen, weil niemand weiter behaupten kann, dass sich Frankreich und Deutschland etwas herausnehmen dürfen, und Polen nicht auch die gleichen Rechte zustehen", betonte Parteichef Kaczyński jüngst auf einem Wahlkongress.

Die KE geht es unter dem Slogan „Die Zukunft Polens. Die große Entscheidung“ eher andersherum an. Sie setzt mit Blick auf bedrohte Rechtsstaatlichkeit auf die unumkehrbare und wertebezogene Verankerung des Landes in der Mitte Europas. Darüber hinaus hat sie dank der Zusammenarbeit mit den Grünen und der Bauernpartei eine für die Bürgerplattform bisher ungewöhnlich hohe Zahl an ökologischen Themen in ihrem Programm: Luftreinheit sowie saubere und günstige Energie, gesunde Lebensmittel und ein nachhaltiger Ausbau des Verkehrswesens gerade mit Blick auf die Regionen.

In eine ähnliche Richtung geht das Angebot von Wiosna. Allerdings betont die Partei noch stärker die direkte Angleichung von Standards per europäischer Gesetzgebung, z.B. im Gesundheitswesen, bei den Frauenrechten und beim Übergang zu erneuerbaren Energiequellen. Zudem fordert sie einen einheitlichen europäischen Pass für alle EU-Bürgerinnen und Bürger, was für Polen gerade in der Visapolitik, z.B. mit Blick auf die USA, deutliche Erleichterungen bringen würde. Innenpolitisch betont sie besonders die in Polen nicht vollständig realisierte Trennung von Kirche und Staat. RAZEM wiederum will sich besonders für die Angleichung und Stärkung von Arbeitnehmerrechten einsetzen und fordert einen europäischen Mindestlohn.

Auf der Rechten greift Kukiz’15, die im EP eine Zusammenarbeit mit der Bewegung 5 Sterne anvisiert, die Forderung nach gleichen Rechten für alle EU-Bürgerinnen und Bürger auf, betont aber vor allem die Notwendigkeit der Dezentralisierung der EU. Die Kompetenzen der Kommission soll zugunsten von Parlament und direkter Bürgerbeteiligung über Konsultationsprozesse beschnitten werden. Demgegenüber strebt die Konfederacja eine Auflösung der EU an, da diese , da diese nationale Traditionen und bürgerliche Freiheiten knebele, verlangt Sicherheit für „Glauben, Familie und Eigentum” sowie ein striktes Abtreibungsverbot und will den Einfluss der „Homolobby“ im Bildungswesen bekämpfen.

Die neuesten, in Polen stets mit Vorsicht zu genießenden Umfragen sehen die PiS im Moment mit etwa 42 Prozent in Führung, auf den Plätzen folgen die KE mit 37 Prozent und Wiosna mit ca. 8 Prozent. Auch Kukiz’15 hätte mit 6 Prozent Chancen auf Mandate, wohingegen Konfederacja (4 Prozent) und Lewica Razem (3 Prozent) den Einzug ins EP verpassen würden.

Interessant ist die soziale Verteilung der gesellschaftlichen Unterstützung für die wichtigsten politischen Konkurrenten: für die PiS stimmen besonders Verheiratete. Wiosna wird von Lebenspartnerschaften aller Geschlechter, besonders aber unter Frauen bevorzugt. Die Rechte ist überproportional bei männlichen Singles beliebt. Nur bei der KE spielt der Familienstand laut Meinungsumfragen keine signifikante Rolle.[2]  Außerdem gilt es zu berücksichtigen, dass PiS und KE bei den über 60-Jährigen zusammengenommen 85 Prozent der Stimmen bekommen. Je jünger die Befragten, desto eher stimmen sie für eine der „neuen“ Gruppierungen.[3]

Nach gegenwärtigem Stand könnte die PiS von den 52 auf Polen entfallenden Sitzen aufgrund des hiesigen Wahlrechts - die Methode d’Hondt bevorteilt die stärkste Liste überproportional - sogar mehr als 26 Mandate erhalten und damit eine der stärksten nationalen Parteigruppen im EP stellen. Allerdings ist die zukünftige Stärke der „Europäischen Konservativen und Reformisten“, der die PIS angehört ungewiss. Nach einem Brexit würden sie die britischen Tories verlieren und dadurch stark schrumpfen. Obwohl sich Parteichef Jarosław Kaczyński immer wieder medienwirksam mit Vertreter/innn der europäischen Rechten getroffen hat, um seine Koalitionsfähigkeit im EP unter Beweis zu stellen – wie zuletzt mit Matteo Salvini von der italienischen Lega –, grenzt er sich in der konservativen Tradition de Gaulles inhaltlich von klaren Europagegnern ab.

Mit Besorgnis wurde allerdings die von Kaczyński losgetretene Debatte um die Aufschiebung der Einführung des Euro in Polen aufgenommen, mit der er die KE vor sich hertreiben und von deren Vorwürfen bezüglich der Rechtsstaatsverletzungen der PiS-Regierung ablenken will. Hier wird auf bekannte Weise vordergründig vor ökonomischen Verwerfungen gewarnt, gleichzeitig aber das Bild einer angeblich antisozialen EU gemalt: „Wir wollen europäische Gehälter, aber keine europäischen Preise!”. Auch konservative Kommentator/innen zeigten sich bestürzt, dass eine wahltaktische Polarisierung rund um ein Kernthema der europäischen Integration negative Folgen für die gesellschaftliche Wahrnehmung der EU in Polen, aber auch für den faktischen Einfluss Polens auf zentrale Politikbereiche der EU haben könnte.


[1] Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS aus der 1. Märzhälfte 2019. https://www.tvp.info/42332078/cbos-rekordowe-poparcie-dla-czlonkostwa-polski-w-ue

[2] Vgl. die Ergebnisse einer Umfrage von Kantar Millward Brown für das Magazin „Wysokie Obcasy” im Zeitraum vom 5.-11. März 2019 (oko.press, abgerufen am 06.05.2019).

[3] Vgl. Krzysztof Pacewicz: Młodzi mężczyźni są prawicowi i samotni, a młode kobiety liberalne i w związkach (wyborcza.pl, 27.04.2019).