«Whole of Government» als migrationspolitische Perspektive

von Rainer Ohliger und Mekonnen Mesghena

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1. Ausgangsfragen: Neue Antworten auf alte Fragen durch neue Konzepte
Drei Fragen standen am Anfang der Arbeit der Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung «Perspektiven für eine zukunftsgerichtete und nachhaltige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik», als diese sich im Jahr 2016 konstituierte. Die erste Frage zielte darauf zu klären, was gegenwärtig  die deutsche Migrations-  und Integrationspolitik kennzeichnet. Wo liegen die brennenden Herausforderungen? Wie gelingt es, Lösungen für diese Herausforderungen zu entwickeln  und politisch umzusetzen? Die Auswahl der in den vorgelegten Kapiteln und Aufsätzen bearbeiteten Themen spiegelt die Antwort auf diese Ausgangsfrage.
Mit dieser eher empirisch grundierten ersten Frage ist die zweite Frage eng verbunden. Normativ gewendet, heißt sie: Wie soll die deutsche und europäische Politik im globalen Zusammenhang den Themenbereich Migration, Flucht und Integration gestalten? Diese Frage zielt also auf den Rahmen und auch auf den moralischen Kompass, die das Handeln der Akteure leiten können und sollen. Auf dieser Ebene geht es z. B. um die menschenrechtliche Dimension der Migrations- und Flüchtlingspolitik, nicht allein um das Machbare im politischen Alltag. In den einzelnen Kapiteln des Kommissionsberichts spiegeln  die Reflexionen  verschiedener Handlungsoptionen und die jeweiligen Handlungsempfehlungen diese zweite Frage.
Bei der dritten Frage handelte es sich anfänglich  um eine rein interne Frage. Es war die Frage danach, was den inhaltlich-konzeptionellen Rahmen der gemeinsamen Kommissionsarbeit ausmachen könnte, und zwar jenseits der einzelnen Themen und Aspekte, die durch  unterschiedliche Kommissionsmitglieder, die in der Kommission vertretenen Institutionen und Stimmen und die einzelnen Arbeitsgruppen und Auto- renteams eingebracht und bearbeitet wurden. Es ging hier um die Suche nach einem Dach für die einzelnen Diskussionen, Analysen, Beiträge und Papiere. Es wurde  ein Leitmotiv gesucht  und  entwickelt,  das für inhaltlich unterschiedliche Beiträge eine bindende Klammer oder sogar die Kohärenz  der Fragestellung und Analyse ermöglichen sollte. Diese Klammer  sollte nicht nur die methodische, konzeptionelle oder intellektuelle Rahmung setzen, sondern möglichst auch politikrelevant sein.
Die internen Diskussionen in der  Kommission führten schließlich zu einer schlüssigen Lösung, die ein hohes Maß an Innovationspotenzial hatte, wie sich in der Kommissionsarbeit zeigte. Die Kommissionsmitglieder einigten sich darauf, wo möglich und sinnvoll, den politisch-administrativen Ansatz des Whole of Government als Diskussions- und Analysefigur zu nutzen, um die einzelnen Themen der drei Arbeitsgruppen der Kommission zu rahmen.

2. Problemstellung: Potenziale für eine kohärente Politik bei den Querschnittsthemen Migration, Asyl und Integration
Worum geht es bei diesem  neuen Ansatz? Wo hat er seinen  Ursprung? Wie wurde er im Rahmen  der Kommissionsarbeit modifiziert  und analytisch  umgesetzt? Welches Problem  soll mit diesem  Ansatz ins Auge gefasst werden,  und was kann von ihm als Lösungsinstrument erwartet werden? Wie lautet also die Problemanzeige, wenn man auf das benannte Politik- und  Handlungsfeld (in Deutschland) schaut?  Migration, Flucht und Integration sind beileibe keine neuen Politikfelder. Im Nachkriegsdeutschland standen die Themen Flucht und Eingliederung mit der Aufnahme von Millionen deutscher und  deutschstämmiger Flüchtlinge  und  Vertriebener auf der politischen Agenda ganz oben. In Folge der Arbeitsmigration seit Mitte der 1950er-Jahre wurden in der Bundesrepublik seit den  1970er-Jahren erste  Konzepte  und  Politiken  entwickelt. Allerdings, und hier liegt eines der Probleme, kam es nicht zu einer dauerhaften, kohärenten und auch verschränkten Migrations-, Asyl- und Integrationspolitik. Lange verweigerte sich die Bundesrepublik gar der empirisch nicht zu leugnenden Tatsache, dass es ein Einwanderungsland mit einer Migrationsgesellschaft ist.
Institutionell kam es sogar zu einem Rückbau. Das Bundesministerium für (deutsche) Flüchtlinge  und  Vertriebene wurde 1969 durch  die neue  sozialliberale Koalition abgeschafft,  eine ausbaufähige (und  reformbedürftige) Struktur  im Bereich der Integrationspolitik damit  zerschlagen. Für den  Bereich der Arbeitsmigration (oder auch der Zuwanderung von Aussiedlern  und Spätaussiedlern) und die Integrations- politik gab es in der Folge keine übergeordnete Institution mehr. Die Verantwortung für die Querschnittsthemen Migration  und  Integration, so die Themen  denn  überhaupt  systematisch und  mit politischem Momentum angegangen wurden,  lag auf verschiedenen Ebenen,  bei verschiedenen Institutionen mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen und Ressourcen. Aus dieser Logik der Betrachtung des gesamten Themenfeldes als Querschnittsthema folgte eine politische  Parzellierung der Aufgaben und Sachbereiche. Dies spiegelte sich, um es an einem Beispiel zu illustrieren, detail- genau in den politischen Zuständigkeiten und Unzuständigkeiten auf der Ebene von – nicht selten  eher konkurrierenden als kooperierenden – Ministerien und nachge ordneten Behörden. Das Ausländerrecht mit den  dazugehörigen sicherheits- und ordnungspolitischen Kompetenzen lag in der Verantwortung des Bundesinnenmi- nisteriums, was oftmals  zu einem  ordnungs- und  sicherheitspolitischen Imperativ in der Migrations-  und Staatsangehörigkeitspolitik führte. Für die integrationspoliti- sche Dimension mit den Bereichen  Arbeit und Soziales hingegen  waren das entspre- chende Bundesministerium und die Landesarbeits- und Sozialministerien zuständig. Und die (schulische) Bildungsintegration migrantischer Kinder folgte der föderalen Logik, unterlag  also fast ausschließlich den Ländern.  Sprachvermittlung und -erwerb wurden  lange Zeit hingegen  nicht  für alle Gruppen von Migranten/innen gleicher- maßen angegangen. Die Verantwortung dafür lag dann  je nach Zielgruppe  mal beim Innenministerium, mal beim  Arbeits- und  Sozialministerium, seit der Verabschiedung eines Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2005 dann insgesamt beim Bundesinnen- ministerium bzw. dessen  nachgeordneter Behörde,  dem  Bundesamt für Migration und Flüchtlinge  (BAMF). Dessen Kernkompetenz ist aber eigentlich die Prüfung von Asylanträgen. Über allem schwebten darüber hinaus die Institutionen und Ämter der verschiedenen, meist  mit wenig Kompetenzen, Ressourcen und politischer Macht ausgestatteten Integrations- wie auch  Aussiedler-  und  Flüchtlingsbeauftragten im Bund, den Ländern  und auch in zahlreichen Kommunen.
Im Ausnahmejahr 2015 erfolgte als Reaktion auf die starke Flüchtlingszunahme eine  krisenbedingte Kompetenzverlagerung für den  Bereich  der Asyl- und  Flücht- lingspolitik auf Kosten des eigentlich  zuständigen, aber überforderten Bundesin- nenministeriums auf eine übergeordnete Koordinationsstelle im Bundeskanzleramt. Hinzu kamen  wöchentliche Koordinierungsrunden auf Staatssekretärsebene und unter  zahlreichen beteiligten Ressorts zusätzlich  auf Abteilungsleiterebene. Der Handlungsdruck, den  die Ausnahmesituation  erzeugte,  führte  für eine  kurze  Zeit zu einem  gemeinsamen Modus im Politikfeld der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Man könnte behaupten, die Krise von Politik und  Verwaltung  2015/16 brachte auf Bundesebene, aber auch zwischen Bund, Ländern  und Kommunen kurzzeitig ein Whole- of-government-Handeln hervor. Allerdings war dieser Modus nicht auf Dauer gestellt, sondern verschwand wieder mit dem Ende der «Krise».
Die flüchtlings- und integrationspolitische Entwicklung der Jahre 2015 und 2016 lief in den Kommunen deutlich  stärker als im Bund und in den Ländern  in Richtung abgestimmtes und kohärentes Handeln. Unter dem Druck, pragmatische migrations- bzw. eher integrationspolitische Lösungen zu implementieren, bildete  sich regional und lokal ein deutlich kohärenteres System heraus, nicht nur im Bereich kommunaler Politik und Verwaltung, die auf Kommunikation, Koordination und Kooperation setz- ten. Auch die Vernetzung und Kooperation mit der Zivilgesellschaft, teils auch mit der Wirtschaft und  Unternehmen, ist hier besser  und  effizienter  organisiert als auf den Ebenen der Länder, des Bundes oder der EU. Dieser Befund stärkt die Forderung, die integrationspolitischen Kompetenzen stärker  subsidiär zu organisieren. Dies kann von der Vermittlung von Sprachkenntnissen in Integrationskursen über das Integrationsmanagement der Arbeitsverwaltung auf kommunaler Ebene durch  die Jobcenter bis hin zu einer Verstetigung  ehrenamtlicher Begleitung beispielsweise von Flüchtlingen reichen.
 
Auf Bundesebene konnte  die ausführende Behörde,  das BAMF, als Folge der zu hohen Arbeitslast,  einer  zu knappen Personaldecke, einer  veralteten technischen Ausstattung  und  ungeschmeidiger Organisations- und  Abstimmungsprozesse den Anforderungen nicht  mehr  gerecht  werden.  De facto ging die Amtsleitung  für eine Übergangszeit auf die Bundesagentur für Arbeit über. Symbolisiert wurde dies durch die Neubesetzung der Leitung durch Frank-Jürgen Weise, den Leiter der Bundesagentur für Arbeit, der ab September 2015 beide Institutionen führte. Das BAMF wurde in dessen Amtszeit einem nicht immer einfachen Reorganisationsprozess durch externe Unternehmensberater unterworfen. Es kam also zu einer Reform von außen nach – nicht nur selbst verschuldetem – institutionellem Versagen. Kommunikation, Koordination und Kooperation im Sinne einer über Ressorts, Ebenen und auch föderale Zuständigkeitsbereiche hinausgehenden, abgestimmten kohärenten Politikgestaltung standen zu diesem Zeitpunkt  nicht als institutionelles Ziel der Reform auf der Tagesordnung. Es handelte sich um  einen  aus der Not geborenen Reformprozess, der erst einmal die Funktionsfähigkeit des Amtes und die Gestaltungsfähigkeit in der Asyl- und Flüchtlingspolitik wiederherstellen sollte.
Die laufende Debatte um Migration, Flucht, Integration bzw. deren Steuerung und Regulierung durch Politik, Parlament, Verwaltung und Zivilgesellschaft ist politischer, konzeptioneller und strategischer Natur. Sie überschneidet sich mit älteren  Fragen, etwa jener nach der politisch-juristischen Ausgestaltung und dem institutionellen Ort der Migrations- und Integrationspolitik, also der Frage nach einem Migrations-, Integrations-  und Teilhabegesetz bzw. der Schaffung eines nationalen Ministeriums für diese Themenbereiche. Fragen der Organisation, Abstimmung und Kooperation sind dafür zentral.
Die Kommission stellte sich die Frage, wie und in welchen Bereichen und Themen stärkere  inhaltlich-politische und  organisatorisch-gestaltende Kohärenz  im Bereich der Migrations-,  Asyl und Flüchtlingspolitik hergestellt werden  könnte.  Könnte dies mit einem  (erweiterten) Whole-of-Government-Ansatz gelingen? Welche Schritte wären dafür nötig? Wo gibt es bestehende Strukturen, an die man anknüpfen kann?

 

Einwanderungsland Deutschland

Bericht der Kommission „Perspektiven für eine zukunftsgerichtete und nachhaltige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik“ der Heinrich-Böll-Stiftung mit wichtigen Impulsen für Politik und Gesellschaft in den Bereichen Migration und Integration.

3. Whole-of-Government als Reformansatz
Die Migrations-,  Asyl- und  Integrationspolitik hat in den  letzten  zwei Dekaden zahlreiche  Neuerungen  erfahren:  die  Reform  des  Staatsangehörigkeitsgesetzes, die Verabschiedung eines Zuwanderungsgesetzes, die Schaffung eines nationalen Integrationsplans und nicht zuletzt zahlreiche Änderungen des Asylrechts in den Jahren 2015/16 (Asylpaket I, Asylpaket II, Integrationsgesetz). Hier soll nicht die Güte und Wirkung dieser Reform im Einzelnen analysiert und bewertet werden. Festzuhalten bleibt aber: Die Reformbemühungen und -ansätze wurden in der Regel als Einzelmaßnahmen konzipiert. Eine vorherige Abstimmung zwischen den verschiedenen Akteuren unterschiedlicher Handlungsebenen hätte zu einer vertieften  Kooperation und mehr Kohärenz führen können.
Der hier diskutierte Ansatz des Whole of Government setzt bei der Feststellung dieses Defizits an und zielt auf einen alternativen Rahmen  für künftige Politikansätze in der  Migrations-, Asyl- und  Integrationspolitik ab. Die Ausgangsüberlegung ist, dass das Themenfeld  ein Querschnittsthema ist, das sich konzeptionell und politisch in verschiedenen Institutionen, Politikfeldern und übergreifenden Zuständigkeiten abbildet. Über eine rein institutionelle Abstimmung hinaus bedarf es deshalb des Schnittstellenmanagements,  idealerweise durch  Institutionalisierung sowie  deren personelle und budgetäre Unterfütterung.
Der Whole-of-Government-Ansatz zielt also darauf ab, politisches und Verwaltungshandeln und zunehmend auch gesellschaftliches Engagement mit seinen jeweils unterschiedlichen Ebenen und Zuständigkeiten fachlich-inhaltlich, konzeptionell und administrativ zu koordinieren und abzustimmen. Es geht dabei um einen Politikansatz, der Ebenen,  Ressorts und  die im föderalen  und  EU-System geteilten Zuständigkeiten übergreifend gestaltet. Der Ansatz kann sich sowohl auf die horizontale als auch auf die vertikale  Kommunikation, Koordination und Kooperation innerhalb von Politik, öffentlicher  Verwaltung, aber auch der (nicht nur) beratenden politischen Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren beziehen. Zentrales Mittel dieses interagency approach  ist die Schaffung von Entscheidungsgremien zwischen Institutionen unterschiedlicher Ebenen, Ressorts und Zuständigkeiten. Der Ansatz ist neu und hinreichend abstrakt. Er muss konkretisiert und in der Praxis getestet werden.
Ausgangspunkt ist dabei die Situation in einem spezifischen Politikfeld oder Themengebiet mit einer konkreten Zielsetzung. Mit Blick auf die deutsche (und internationale)  Migrations-, Asyl- und Integrationspolitik im weiteren Sinne sollte also die Abstimmung und Kooperation im föderalen Mehrebenensystem unter den relevanten beteiligten Ministerien, Ämtern, öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Einrichtun- gen, die das Themenfeld mitbestimmen, einbezogen werden. Dafür gilt es, die Arbeit der Akteure abzustimmen, die an der  Ausrichtung der Migrationspolitik, der  Aufnahme von Migrantinnen und Migranten sowie der aus migrationspolitischen Entscheidungen resultierenden Integrations-, Teilhabe- und Staatsbürgerschaftspolitik beteiligt sind. Darüber hinaus müssen Überlegungen, Empfehlungen und Ansätze für eine bessere Koordination und Kooperation entwickelt werden.  Es geht dabei weder um zentralistische Steuerung noch um die Aushebelung bestehender Zuständigkeiten oder gar die Aufhebung  notwendiger Arbeitssteilungen. Auch ist das Ziel nicht eine Föderalismusreform auf administrativem Weg. Vielmehr sollen bestehende Gestaltungsspielräume im föderalen und  arbeitsteiligen System politisch-administrativ ausgelotet, institutionell verankert und besser genutzt werden, um Kohärenz und Effizienz im politischen Handeln herzustellen.

4. Hintergrund und Herkunft des Ansatzes
Der Whole-of-Government-Ansatz stammt  aus dem angelsächsischen Raum. Er hat seine  Ausprägungen in politischem Handeln vor allem in Großbritannien  und  in Australien  gefunden, teils im Bereich der Abstimmung von Finanzpolitik (GB), teils im Bereich allgemeiner Politiken (AUS). Die meisten Ansätze entstanden im Bereich der  Außen-, Militär- und Friedenspolitik. In Kontinentaleuropa  findet  der  Ansatz vor allem in der Schweiz Anwendung, dort auch  im Bereich der Migrationspolitik. Der Ansatz des government bezieht sich auf die Frage der Abstimmungs- und  Entscheidungsmodi politischen Handelns, nicht auf die Frage der Lenkungsformen (= governance).
Neben der politischen und praktischen Ausprägung des Konzepts gibt es auch eine akademische Diskussion darüber. Sie entwickelte sich  als Gegenbewegung zu der seit den 1980er-Jahren dominanten Denk- und Politiktradition des new public management, das staatliches Handeln und Daseinsfürsorge vor allem unter den betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten der Kostenminimierung und Effizienzsteigerung betrachtete und organisierte. Der Trend zum Whole-of-Government-Ansatz stellt hingegen die politische Dimension staatlichen und gesellschaftlichen Handelns wieder stärker  in den Mittelpunkt. Mag das Ziel dieser  beiden  entgegengesetzten  Ansätze auch ähnlich sein, nämlich die Effizienzsteigerung im Bereich des öffentlichen Handelns, so sind doch die Methode und das Konzept unterschiedlich. Außerdem zielt der Whole-of-Government-Ansatz explizit auf einen holistischen politischen  Zugang, nicht auf Effizienz in Teilbereichen, die man rein betriebswirtschaftlich nach Aufwand und Ertrag oder Kosten und Nutzen durchleuchtet.

5. Heutige Ansätze: Bestehende Modi der Abstimmung – existente Kohärenz
Es bestehen bereits  kooperative Formen   der  politischen  Meinungsbildung und -abstimmung. Allerdings  wird der Themenbereich Migration und Integration vergleichsweise weniger kohärent gestaltet, etwa im Vergleich zur Finanz-,  Sozial- oder Gesundheitspolitik. Diese werden auf Bundes- und Länderebene jeweils durch eigene Ministerien, auf  kommunaler Ebenen durch entsprechende Dezernate verwaltet und gestaltet. Dies ermöglicht eine strukturiertere Form der Kommunikation und Koordination.
Jedoch  wird auch die heutige Migrations-, Asyl- und Integrationspolitik schon in einer Reihe von Bereichen koordiniert. Meist erfolgt dies im Normalprozess der Gesetzgebung und Politikgestaltung, die aber dossier-gebunden ist. Die Federführung liegt dann bei einem Ministerium oder Dezernat, die weiteren beteiligten Regierungsstellen kommentieren. Die Koordination und Gestaltung eines gesamten Politikfeldes (oder  mehrerer Politikfelder) als kontinuierlicher Prozess wird dadurch weder angeregt noch befördert. Der Schwerpunkt bei den bisher etablierten Kooperationsformaten liegt meist auf der Information und Verständigung über die Politiken einzelner teilnehmender Akteure. Gelegentlich wird auch nur negative Gestaltungsmacht (durch Veto oder Obstruktion) ausgeübt.
Beim Whole-of-Government-Ansatz geht es um mehr, nämlich die kooperative Gestaltung politischer und legislativer Prozesse.  Kooperative Ansätze, an die man anknüpfen und die man ausbauen könnte, gibt es in mindestens fünf Bereichen. Bessere Zusammenarbeit kann gelingen

  • durch  gemeinsame Geschäftsordnungen als Abstimmungsregulativ oder grundsätzliches  Abstimmungs- und Koordinierungs-Tool unterschiedlicher Verwaltungsbereiche (horizontale und vertikale Abstimmung);
  • durch die klassische Ressortabstimmung zwischen Ministerien auf Bundesebene bzw. Länderebene (wie auch zwischen dem Bund und den Ländern) im Prozess der Gesetzgebung oder der Ausfertigung von Verordnungen, Weisungen und Berichten (horizontale, vertikale und föderale Abstimmung);
  • durch das Einrichten von Spiegelressorts in Ministerien oder zwischen Staatskanzleien/dem Bundeskanzleramt und Ministerien, sodass eine thematische Abstimmung zwischen den Ressorts erfolgen kann (meist horizontale Abstimmung);
  • auf der Ebene der Verwaltungsleitungen (Minister, Staatssekretäre) durch  stetige Austausch- und  Beschlussforen sowie regelmäßige Konferenzen, z. B. Staatssekretärskonferenzen bzw. die Innenminister- oder die Integrationsministerkonferenz auf der Bund-Länder-Ebene; dazu zählen auch die Ministerräte auf der EU-Ebene (horizontale und föderale Abstimmung);
  • durch – meist nach  Bedarf oder politischem Willen – informelle  interministerielle Arbeitsgruppen, die aber meist nur ein Medium der Kommunikation ohne Beschlussfassungskompetenz sind (vertikale Kommunikation).

Es gibt also schon zahlreiche Ansätze eines möglichen Whole-of-Government-Ansatzes, die ausbaufähig sind. Als Vorbild für den weiteren Ausbau könnte auch das unten dargestellte Beispiel der Migrationspolitik in der Schweiz und die dortigen  ebenen- und ressortübergreifenden Abstimmungs- und Entscheidungsmodi sein.

6. Lücken, Hindernisse und Desiderata: bessere Kommunikation, Koordination und Kooperation
Es gibt einige zentrale  Bedenken, Hindernisse und  eine gewisse Sachlogik, die der Einführung eines Whole-of-Government-Ansatzes in Deutschland entgegenstehen. Diese seien hier kurz genannt.

  • In der Verwaltung gilt prinzipiell  das Ressortprinzip und die interne Ressortabstimmung. Dies steht  strukturell einer übergreifenden Kooperation und  abge- stimmten, gemeinsamen Entscheidungen im Wege. Im Zweifel und im Streitfall wird nach Interesse eines Ressorts (oder einer Ebene) entschieden. Strittige Themen werden  dann «eskaliert», also intern auf die jeweils nächsthöhere oder die obere Entscheidungsebene innerhalb des Ressorts weitergereicht.
  • Nicht nur Entscheidungen, auch die Ideenentwicklung und Meinungsbildung werden in Verwaltungen vornehmlich durch Top-down-Prozesse bestimmt. Ein Whole-of-Government-Ansatz durchbricht aber etablierte Hierarchien bewusst, um Innovationen und Synergien zu ermöglichen.
  • Direkte, finanzwirksame Kooperationen zwischen  dem Bund und den Kommunen  (vor allem im Bildungsbereich) sind durch das  Grundgesetz stark eingeschränkt (Kooperationsverbot). Dies kann aber erfolgen, wenn die Länder als Mittler einbezogen werden, wie es z. B. der Fall bei Kostenerstattung für die kommunale Unterbringung von Asylbewerbern und -bewerberinnen war.
  • Das Prinzip der Konnexität – wer  entscheidet, trägt  auch  die  resultierenden Kosten – kann unter den Bedingungen begrenzter Mittel und knapper Güter als Bremse von Kohärenz wirken.
  • (Fach-)Verwaltungen haben ihre eigene Kultur und folgen ihrer internen Logik (man kann auch sagen: sie verfügen über Eigensinn).  Diese Kulturen wirken zwischen Ressorts oft als Hemmschuh für engere Kooperationen. Ein klassisches Beispiel ist die schwierige  Kooperation zwischen Innen- und  Sozialministerien im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik.
  • Parteipolitische Färbung und notwendige politisch erforderliche, aber gelegentlich nicht immer sachorientierte Kompromisse prägen  oft auch Teile des Verwaltungshandelns. Dies spiegelt sich in der Kooperation zwischen  Ressorts (ein klassisches Beispiel aus der politischen Praxis von Bundesländern sind die unterschiedlichen Vorgaben und Zielorientierungen grüner Umweltministerien und politisch anders gefärbten Wirtschaftsministerien).
  • Es gibt den nicht zu unterschätzenden weichen Faktor der Kompetenz und der persönlichen Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft («Chemie») zwischen  den entscheidenden Akteuren. In Verwaltungen mag dieser Bereich auch generationsspezifisch ausgeprägt sein (also zugespitzt: mehr an Kooperationsbereitschaft bei kürzerer Dienstzeit).

 
7. Thematische und inhaltliche Kohärenz: Ansätze, Beispiele, Handlungsfelder
Es seien hier abschließend kurz einige Beispiele für die ausbaufähige thematische, konzeptionelle und institutionelle Verschränkung von Politikfeldern  in den Bereich Migration, Asyl und Integration skizziert:

Aufnahme- und Resettlement-Politik
Die nationale sowie die im europäischen Rahmen  geregelte  Aufnahmepolitik von Flüchtlingen und  die gezielte  Resettlement-Politik auf internationaler Ebene sind kaum miteinander verzahnt. Dies gilt nicht nur im Bereich der Erstaufnahme, sondern auch für die auf europäischer Ebene intendierte Verteilung oder Relocation zwischen  einzelnen EU-Staaten, wie sie im Zeichen der «Flüchtlingskrise»  verhandelt, aber nur in einem sehr geringen Ausmaß umgesetzt worden ist.

Dualität von Migrations- und Flüchtlingspolitik
Auch die klare politische Trennung zwischen Arbeitsmigration und Fluchtmigration, die der sozialen  Wirklichkeit  der «mixed migration»  nicht entspricht, weist einen Mangel an Vernetzung  durch Kommunikation, Koordination und Kooperation auf.
Migrationspolitisch folgt die  Flüchtlingspolitik ordnungs-,  sicherheits- und  menschenrechtspolitischen Vorgaben und Zielen. Arbeitsmarktpolitische Ziele (Fachkräftegewinnung) gehören formal nicht zu ihren Zielen. De facto gibt es aber eben jene Verschränkung bei den Migrationsmotiven vieler Personen, die durch das Zugangstor Asyl kommen. Dies spiegelte sich im Jahr 2015 sehr deutlich mit Blick auf die Nicht- EU-Länder  Südosteuropas (Albanien,  Kosovo, Mazedonien, Serbien).  Zwar gibt es ein gewisses Maß an Durchlässigkeit für (abgelehnte oder noch nicht anerkannte) Asylbewerber  in den  bundesdeutschen Arbeitsmarkt  (z. B. § 25a/b  Aufenthaltsge- setz, also die Erteilung  einer  Aufenthalts-  und  Arbeitserlaubnis für Geduldete bzw. die «3-plus-2-Regelung» für Geduldete, also die Möglichkeit zur dreijährigen betrieblichen  Ausbildung mit anschließender zweijähriger Berufstätigkeit).  Eine generelle und politisch kohärent gesteuerte Möglichkeit zum Status- oder Spurwechsel existiert aber bislang nicht.  Sie ist politisch auch umstritten und vermutlich nicht konsens- fähig.  Die Praxis der Aufenthaltspolitik und der Aufenthaltsgewährung spiegelt dies im Bereich der kommunalen Ausländerbehörden, die teils Schritte hin zu vernetzten und koordinierten Servicecentern gemacht haben, teils noch in einer älteren Tradition stehen, die von der vernetzten Praxis des Whole-of-Government-Ansatzes weit entfernt sind. Ein zentrales Informations- und Kommunikationsinstrument für diesen Ansatz im kommunalen Bereich könnte ein modernisiertes und modifiziertes Ausländerzentralregister sein.

Integrationspolitik für Flüchtlinge
Kommunale Integrationspolitik für Flüchtlinge (und  Migranten/innen) wird durch eine Reihe von Akteuren erbracht, die eigenständig im Bereich der Unterbringung (kommunale Wohnungs- oder Sozialämter), der Migrationsberatung (Wohlfahrtsorganisationen), der Sprachvermittlung (Volkshochschulen, Sprachschulen) und  der Qualifizierung und  Arbeitsvermittlung (BA, Jobcenter) agieren. Eine systematische dauerhafte Vernetzung dieser Akteure und Institutionen unter integrationspolitischen Zielsetzungen findet in einer Reihe von Kommunen zwar schon  vernetzt  statt, z. B. durch  Integration Points oder durch  One-Stop-Shop-Angebote.  Die Regel ist aber meist eine Arbeitsteilung zwischen den Institutionen, manchmal auch ein Übergang von einer in eine zweite aufgabennahe Einrichtung. So erfolgt in der Arbeitsverwaltung für Schutzsuchende bzw. anerkannte Flüchtlinge  mit dem Rechtskreiswechsel vom Asylbewerberleistungsgesetz zum  SBG II ein Betreuungs- und  Institutionenwechsel von der nationalen Bundesagentur für Arbeit zum kommunalen Jobcenter. Die vorherrschende Situation führt im Bereich der Sprachvermittlung für Flüchtlinge durch  Integrationskurse und  der  Vermittlung in Ausbildung oder Arbeit meist zu parallelen, teils auch konkurrierenden Angeboten.

Rückkehrpolitik
Abschiebe- und Rückkehrpolitik,  einer der strittigsten Bereiche der Asyl- und Flücht- lingspolitik, folgt in ersten  Ansätzen schon  neuen Konzepten. So geht es nicht mehr nur um die reine Tatsache  der erfolgreichen Rückführung, forciert werden vielmehr eine geplante frühe Rückkehrberatung, teils auch die Begleitung von Rückkehrwilligen in den Herkunftsländern, um deren Re-Integration und Zukunftsperspektiven zu verbessen. Diese Ansätze zielen auf die stärkere Kooperation verschiedener Ebenen und Ressorts, bringen idealerweise im Bereich der Beratung die kommunale und die Landesebene zusammen. Bei Angeboten zur Re-Integration könnte dieser Ansatz in Richtung einer kohärenten Migrationsaußenpolitik gehen.

Migrationsaußenpolitik
Eine Migrationsaußenpolitik, die Rückkehr-, Außen-, Entwicklungs- und Arbeits- marktpolitik zusammenbringt und  zwischen  den  beteiligten Ministerien abstimmt (Außen,  Innen,  wirtschaftliche Zusammenarbeit, Arbeit und  Soziales) ist allenfalls in ersten  Ansätzen  zu erkennen. Die Akteure auf nationalstaatlicher Ebene handeln überwiegend im Rahmen eigener kommunikativer Netze und Politiken,  also vorwiegend  entlang  von Verwaltungsvorgaben der Ressorts und der Praxis der eigenen Institution. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad auch für die supranationale Ebene, auch  wenn diese länderübergreifend, jedoch nicht notwendigerweise ressort-  oder ebenenübergreifend koordiniert ist.
In der deutschen Entwicklungspolitik läuft ein erster Trend aber zurzeit in Richtung stärkerer ressortübergreifender Kooperation, insbesondere zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Es gab allerdings auch Ansätze durch Staatssekretärsrunden, die eher ernüchternd waren.

8. Ausblick
Die akuten  Herausforderungen, vor denen die deutschen Migrations-,  Asyl und Integrationspolitik steht, resultieren nicht in erster  Linie aus den nur aktuellen Fragen, z.B. den Folgen der Flüchtlingszuwanderung in den Jahren 2015 und 2016. Vielmehr gibt es ein schon viel länger bestehendes strukturelles Problem, nämlich ein Defizit an abgestimmtem und kohärentem Handeln. Das Querschnittsthema wird durch Institutionen und  Akteure  bearbeitet, die meist  arbeitsteilig  agieren.  Kooperation erfolgt im Bereich der Information, weniger im Bereich der Gestaltung.  Eine bessere Abstimmung, Kommunikation, Kooperation und konzeptionell-politisches Handeln wären möglich. Dafür braucht es aber den Rahmen  eines neu zu bestimmenden Systems. Der Whole-of-Government-Ansatz könnte dafür das Gerüst liefern. Ein Mehr an Kohärenz  würde  zu klareren  Zielsetzungen und Planungen führen. Das könnte  den positiven Nebeneffekt haben, dass sich mittel- und langfristig eine Migrations-,  Asyl- und Integrationspolitik herausbildet, die nicht vorwiegend  in Krisenzeiten  auf exter- nen Druck reagiert und sich dabei von öffentlicher Aufregung treiben lässt (wie beim Asylrecht 1993 und 2015), sondern Probleme antizipierend angeht.

Konkrete Ansätze dafür wären (auf nationalstaatlicher Ebene):

  • Die Schaffung stabiler Institutionen (Staatssekretärsrunden etc.), die sich nicht nur anlassorientiert oder kriseninduziert, sondern permanent bestimmter politischer Gestaltungsfragen und Gesetzgebungsvorhaben annehmen, diese bearbeiten und auch regelmäßig  ihre Fachabteilungen und/oder -referate beteiligen. Dieser Prozess   ließe  sich  durch   eine  herausgehobene  Person   moderieren (und  im Zweifel befrieden), z. B. durch  eine  Art von Sonderbeauftragtem im Bundeskanzleramt.
  • Diese Reforminitiative sollte sich nicht auf die Politik und die Verwaltung beschränken, sondern auch die Zivilgesellschaft (und  die Privatwirtschaft) systematisch in die Politikgestaltung einbeziehen. Ein Vorschlag hierfür wäre eine Art neuer migrationspolitischer Süssmuth-Kommission 2020, aber in verstetigter Form und mit besonderer Berücksichtigung bestimmter Politikbereiche, z. B. allen, die entwicklungspolitische Fragen aufwerfen.
  • Falls es zur Schaffung eines Migrations-  und Integrationsministeriums kommen sollte, so erübrigt  sich damit  nicht die Frage nach  ressort-  und ebenenübergrei- fenden  Strategien  im Sinne des Whole-of-Government-Ansatzes. Es würde zwar die Verlagerung der Querschnittsaufgabe an einen zentralen Ort bedeuten – die Notwendigkeit der Kommunikation und Kooperation mit benachbarten Bereichen bliebe aber dennoch bestehen, wenn man politisch kohärente Entscheidungen und Gestaltung erzielen will.