Griechenland und die EU – Ein Beziehungsdrama in vier Akten

Immer wenn man denkt, es geht nichts mehr, kommt die Europäische Union doch einen Schritt weiter. So auch in jener Sonntagnacht, von der man noch nicht weiß, ob sie ein Durchbruch war oder nur ein Zwischenschritt in einer Dauerkrise. Die griechische Malaise ist nur die Zuspitzung eines tieferen Konflikts. Im Kern  geht es um unterschiedliche Vorstellungen von Europa. Die Gewissheit, dass wir mit den Rückenwind der Geschichte auf dem Weg in eine „immer engere Europäische Union“ sind, ist verloren gegangen. Dass am Ende dieses Weges ein europäischer Bundesstaat steht, ist alles andere als ausgemacht. Die Krise ist die Stunde eines unverhüllten „Intergovernmentalismus“, den EU-Vizepräsident Frans Timmermanns ohne Umschweife verkündet. Es sind die nationalen Regierungen – vorneweg Berlin und Paris – die den europäischen Takt vorgeben. Wir werden auf absehbare Zeit keinen europäischen Superstaat sehen – zu groß sind die Unterschiede und zu ausgeprägt der Eigensinn der europäischen Nationen. Dennoch werden 500 Millionen Europäer weiter zusammenrücken. Das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit ist trotz aller Krisen und Konflikte stark, die europäischen Institutionen bilden einen stabilen Rahmen und die äußeren Herausforderungen sind nur gemeinsam zu bewältigen. Die gemeinsame Währung entfaltet einen konstanten Druck zu stärkerer wirtschafts- und finanzpolitischer Integration.

Der Verlust nationaler Souveränität in der Währungs- und Finanzpolitik und die Ausrichtung auf globale Wettbewerbsfähigkeit sind nicht unbedingt frohe Botschaften für die Menschen in Griechenland und in anderen Ländern der EU Peripherie. Sie gehen einher mit sozialen Härten, wachsendem Leistungsdruck und schärferen Verteilungskonflikten. Aber was wäre die Alternative? Renationalisierung von Wirtschaft und Politik wäre der Weg in politische Bedeutungslosigkeit und wirtschaftlichen Abstieg. Für die Europäische Union bleibt die Aufgabe, mehr Fairness und Ausgleich zu schaffen. Zum Beharren auf finanzielle Solidität und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit müssen Respekt und Solidarität unter Gleichberechtigten kommen. Im Fall Griechenlands geht es darum, mittels nachholender Modernisierung die Bedingungen für die Mitgliedschaft in der Währungsunion herzustellen.

Erster Akt: Widerstand

Annäherungsweise kann man Griechenlands Stellung in Europa seit den Römischen Verträgen durch einen Begriff charakterisieren: Widerstand. In den letzten Jahrzehnten hat das Land seine Identität, sein Griechentum als Widerstand gegen amerikanische und germanische Dominanz, gegen die Oberaufsicht europäischer Institutionen, gegen die Disziplinierung durch Markt und rationale Verwaltung zu behaupten versucht. Zuletzt im Referendum für das „Ochi“ zum Ultimatum der internationalen Kreditgeber, in dem die ganze Geschichte griechischer Selbstbehauptung mit im Spiel war. Besonders natürlich das „Ochi“ gegen Mussolini von 1940, dem der nach dem Unabhängigkeitstag zweitwichtigste nationale Gedenktag gewidmet ist, wie gegen die deutsche Besatzung.

Die Regierung aus Links- und Rechts-Populisten, die seit Januar mit der bisherigen Sparpolitik auch das Konsolidierungsregime des Euro in Frage stellte, verdankt ihren Wahlsieg vom Januar der expliziten Berufung auf diese Tradition. Stets war dies ein Widerstand von links wie von rechts gegen Marktwirtschaft, Kapitalismus, Verwestlichung und Rationalisierung. Schon das Assoziierungsabkommen, das Griechenland 1961 mit der Europäischen Gemeinschaft abgeschlossen hat und das auf die Prinzipien des gemeinsamen Marktes verpflichtete, traf auf verbreitete Abwehr. Allen Beteiligten war von Anfang an klar, dass die europäische Integration Griechenlands große Veränderungen erforderlich machen würde: in Regierung und Verwaltung, bei der Liberalisierung des Arbeitsmarkts (insbesondere der Öffnung kartellmäßig abgeschotteter Berufszweige), bei der Entstaatlichung der Wirtschaft und dem Verlust korporatistischer Privilegien. Das sind die wichtigsten „Strukturreformen“, um die auch aktuell gerungen wird.

Keines der adressierten Probleme wurde bis heute gelöst; mit der Ausdehnung des öffentlichen Sektors, der unheilvollen Rolle der Gewerkschaften in diesem Bereich und dem hoch subventionierten Pensionssystem sind seit den 80er Jahren noch weitere drängende Probleme des griechischen Klientelstaats hinzugekommen.

Zweiter Akt: Wonderland

Als Griechenland 1981 kurz nach dem Ende der Diktatur in die EU aufgenommen wurde, war das Land in keiner Hinsicht auf den gemeinsamen Markt vorbereitet. Den europäischen Regierungen war das wohl bekannt; für sie spielten die politische Stabilisierung nach der Rückkehr zur Demokratie und die geostrategische Bedeutung des Außenpostens Griechenland eine wichtigere Rolle als ökonomische Kriterien. Zudem eröffnete der gemeinsame Markt der deutschen Exportindustrie die willkommene Möglichkeit, die in ihrer Produktivität weit zurückgebliebene griechische Industrie zu überrollen. Statt sich anzunähern, wuchs die wirtschaftliche Diskrepanz mit dem EU-Beitritt weiter an.

War es nach einem Bericht der EU-Kommission von 2003 („Catching up. Growth and Convergence in the New Member States“) bis 1981 noch zu einer stetigen Annäherung des griechischen Lebensstandards an den Durchschnitt in der EU gekommen, so verzeichnete Griechenland im Jahrzehnt von 1981 bis 1990 eine  größer werdende Divergenz. Das war das Jahrzehnt von Andreas Papandreou und seiner PASOK, einer sozialistischen Partei, die insbesondere aus dem Widerstand vieler Mitglieder gegen die Militärdiktatur den moralischen Anspruch auf kulturelle und politische Dominanz ableitete. Für den Beitritt in die EU und den Verzicht auf den im Wahlkampf versprochenen Austritt aus der Nato handelte Papandreou hohe jährliche Transferzahlungen der EU aus, die sich auf durchschnittlich 2,7 Prozent des Nationalprodukts beliefen. Zugleich erhielt er von der EU freie Hand für seine Politik eines griechischen Sozialismus mit Verstaatlichung maroder Betriebe, ausuferndem Interventionismus sowie der Verdoppelung des öffentlichen Sektors. Die Transferzahlungen der EU haben diese Fehlentwicklung mit finanziert. Das Ergebnis dieser als „Pasokisierung“ bezeichneten Politik, die sich immer weiter von den Grundlagen der Römischen Verträge entfernte, sind der griechische Klientelstaat mit seiner privilegien- und machtgestützten Renten-Ökonomie und einer großen Schattenwirtschaft, unter denen Griechenland heute noch leidet.

Mitte der 90er Jahre zeichnet sich ab, dass dieses Geschäftsmodell auf den Ruin zutrieb. Kritiker sprachen von „Wachstum ohne Entwicklung“ – Haushaltsdefizit und Staatsverschuldung wuchsen,  aber auch der Widerstand, etwas an diesem Modell zu ändern. Denn der von Pasok seit 1981 eingeführte und dann von den konservativen Regierungen kopierte klientelistische Etatismus hatte zunächst durchaus Erfolge vorzuweisen. Es gelang ihm, die soziale Ungleichheit zu verringern, vormals ausgeschlossene Schichten erhielten Zugang zur akademischen Ausbildung und Aufstiegschancen in nahezu garantierte Posten im ausgedehnten öffentlichen Sektor. Der Lebensstandard breiter Schichten stieg, die vorher weit verbreitete Armut ging zurück. „Free Riders in Wonderland“ hat das Konstantinos Tsoukalas, einer der bekanntesten Historiker Griechenlands, bereits 1995 genannt. Das griechische Wonderland schien in vielerlei Hinsicht sozial erfolgreicher, humaner und akzeptabler als das Modell der markt- und wettbewerbsorientierten westlichen Gesellschaften. Tatsächlich war und ist das griechische Gesellschaftmodell nicht finanzierbar, scheint aber auch kaum reformierbar. Denn die Alternative zu diesem „griechischen Weg“ ist eine Politik, welche die Einkommensumverteilung zugunsten des öffentlichen Sektors rückgängig machen muss und zugleich mit der Durchsetzung meritokratischer Kriterien bei der Verteilung sozialer Chancen zu  erhöhter Konkurrenz und mehr Ungleichheit führen wird. Die Reformierung einer in ihren Illusionen gefangenen Gesellschaft geht nur unter heftigen Konflikten ab.

 

Dritter Akt: Beitritt zur Währungsunion

Einer der wenigen Reformer der neueren griechischen Geschichte war Konstantinos Simitis. Nach dem Tod von Andreas Papandreou gewann er 1996 mit der sozialistischen PASOK die Wahlen. Simitis und sein Kreis sahen im Beitritt Griechenlands zum Euro die historische Chance zur Reformierung von Wonderland. Die Erfüllung der von der EU gesetzten Beitrittskriterien würde fiskalpolitische Disziplin, ein Austrocknen des Klientelismus, Strukturreformen und eine makroökonomische Umorientierung erforderlich machen, die keine griechische Regierung aus eigener Kraft in die Wege leiten könnte.

Im Einklang mit den fiskalischen Konditionalitäten vor Beitritt zur Währungsunion verringerte Simitis tatsächlich das Haushaltsdefizit und leitete die Reform des Rentensystems ein, das schon damals zur Entgleisung des Staatshaushalts beitrug und das heute noch zu den teuersten in Europa gehört, da es das Fehlen einer individualisierten Sozialhilfe oder eines Grundeinkommens kompensieren musste. Mit diesem Vorhaben scheiterte er am Widerstand der Gewerkschaften und der eigenen Partei-Klientel, die die bis heute anhaltende Besserstellung des öffentlichen Sektors bei Gehältern und Pensionen erfolgreich verteidigten. Die EU ließ Simitis in aller Ruhe scheitern und bestätige Griechenland im Jahr 2000, dass es die Kriterien für den Beitritt zur gemeinsamen Währung erfüllt habe.

Zu diesem Zeitpunkt signalisierten alle ökonomischen Daten, dass Griechenland alles andere als „reif“ war für den Euro. Die EU hat dies später anerkannt, als sie im Jahr 2004 „entdeckte“, dass die griechische Regierung mit frisierten Statistiken gearbeitet hatte. Dabei standen schon früher solide Daten über das seit 1995 rasant steigende Aushandels- und Zahlungsbilanz-Defizit zur Verfügung. Die ließen nur einen Schluss zu: mit Griechenland würde eine marginalisierte, nicht konkurrenzfähige Wirtschaft in einen Raum erhöhten Wettbewerbs eintreten. Die EU hat sich davon nicht beirren lassen. Zunächst (2002) sprach Kommissionspräsident Delors noch von der „griechischen Erfolgsgeschichte“, die das Stereotyp vom marginalisierten Griechenland überwuinden habe. Als die Marginalisierung nicht mehr zu leugnen war, entdeckte die Kommission 2004 zu ihrer eigenen Entlastung die statistischen Fälschungen und leitete Verfahren zur fiskalischen Disziplinierung und Einleitung von Strukturreformen ein. Ohne Erfolg. Die weiche Konditionalität des Stabilitäts- und Wachstumspakts von 1997 konnte noch weniger Wirkung erzielen als Beitrittskriterien. 2009/10 erreichte das griechische Haushaltsdefizit 15 Prozent, die Staatsverschuldung 130 Prozent, das Leistungsbilanzdefizit war riesig, die schwache griechische Industrie war wegkonkurriert, der Exportsektor bis auf Petroleum-Produkte, Obst und Gemüse und Tourismus  zerstört– das Land stand praktisch vor dem Bankrott. Die Frage war nur, wann dies offenkundig werden würde.

Finale: Historischer Kompromiss statt Scheidungskrieg

Mit dem grünen Licht für Griechenlands Beitritt zum Euro ist die EU eine Wette eingegangen. Schaffte das Land die fiskalische Konsolidierung und die erforderlichen Strukturreformen aus eigener Kraft, hätte das funktionalistische Konzept der EU Erfolg gehabt und alles wäre gut. Anpassungen der Fiskalpolitik hätten Strukturreformen  in Verwaltung, Pensionssystem, Arbeitsmarkt etc. ausgelöst. Misslinge dieser Kraftakt, würde Griechenland auf den Bankrott zusteuern und der EU die Gelegenheit geben, die überfälligen Strukturreformen in einem Prozess nachholender Modernisierung unter eingeschränkter Souveränität durchzusetzen. Das ist ohne Zweifel der sehr viel härtere und auch kostspieligere Weg.

Demokratiepolitisch fragwürdig ist der funktionalistische Ansatz der EU: mit dem Doppelhebel Haushaltskonsolidierung und gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit soll das ganze griechische Gesellschaftsmodell verändert werden. Die Reform von Staat und Wirtschaft wird als Sachzwang inszeniert, die Bevölkerung vom Subjekt zum Objekt einer von außen aufgenötigten Rosskur degradiert. Sie kann nur noch zwischen Unterwerfung oder kollektivem Selbstmord wählen. Wir sind inzwischen in einem Teufelskreis: je länger sich die griechischen Eliten einer durchgreifenden Reform von Staat und Wirtschaft verweigern, desto mehr muss sie von äußeren Mächten erzwungen werden – jedenfalls so lange das Land in der Eurozone gehalten werden soll. Gegen die Spar- und Reformzumutungen artikuliert sich der Widerstand als Protest gegen das „Austeritäts-Diktat“ von Merkel & Co, das für die ökonomische Rezession und den sozialen Absturz verantwortlich gemacht wird.

 Dabei gerät aus dem Blick, dass das griechische Geschäftsmodell nicht mehr funktionierte und massive europäische Hilfen notwendig waren, die nur im Verein mit durchgreifenden Auflagen zu haben waren. Ein Staatsbankrott, wie er in diesen Tagen erneut verhindert wird, würde zu noch viel größeren Härten führen. Deshalb bleibt der Kampf gegen „Austerität“ vielfach rückwärtsgewandt, er verteidigt das auf Pump gegründete „Wonderland“ und die Illusion nationaler Souveränität. Auf der anderen Seite könnten weitere verordnete  Kürzungen in Verbindung mit automatischen Ausgabenbremsen zu einer sich verstärkenden Abwärtsspirale führen und am Ende doch den Grexit bedeuten. Das letzte Wort über das dritte europäische Hilfsprogramm ist noch nicht gesprochen. Die geforderten Strukturreformen und Sparmaßnahmen müssen dringend um eine Zukunft-Investitionsprogramm ergänzt werden, das positive Konjunkturimpulse setzt. Griechenland braucht einen „Green New Deal“ für nachhaltiges Wachstum. Um sie sozial abzufedern, muss das Steuersystem gerechter werden, und die weitgehende Steuerfreiheit der Reichen und Superreichen angegangen werden. Die Flucht in eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ist der bequemere, aber verteilungspolitisch falsche Weg.

Am Ende hat es die Regierung Tsipras dahin gebracht, dass sie mit der Aussicht auf den Grexit ein Sanierungspaket akzeptieren musste, gegen das sie eben noch einen populistischen Kreuzzug geführt hat. Über Nacht verkehrte sich Ochi in Nai, Nein in Ja. Dieser Kurswechsel wird viele Menschen in Griechenland tief enttäuschen. Davon könnten auch die Rechtsradikalen profitieren, die Souveränität und rassische Reinheit des Griechentums durch Austritt aus Euro und EU wiedererlangen wollen. Diesen Schritt wollen Tsipras,  der besonnenere  Teil von SYRIZA und die ihn vorerst stützenden europafreundlichen Oppositionsparteien nicht gehen. Wenn es gut geht, finden sich Brüssel, Berlin und Athen in einem  „historischen Kompromiss“ und entdecken nach Jahren bitterster Kontroversen ihre Gemeinsamkeiten. Eine  zukunftsfähige und gerechtere Gesellschaft kann nur in einem europäischen Griechenland erreicht werden. Dafür haben schon während des Referendums die wenigen Europafahnen inmitten eines blau-weißen Meers griechischer Fahnen gestanden: dass die Modernisierung des Landes im Vertrauen auf die langfristige Stärke des europäisch-westlichen Gesellschaftsmodells gelingen wird. Dazu gehört eine grenzüberschreitende europäische Solidarität, die sich gerade in Krisenzeiten bewähren muss.

Juli 2015