Kampf für Menschen- und Bürgerrechte zur Zivilisierung eines überforderten Landes

von Olga Drossou

 

So, so – Griechenland habe keine Zivilgesellschaft, nicht einmal ein Wort gebe es dafür. Das ist das Ergebnis eines Zwei-Tages-Trips nach Griechenland, den zwei Vertreter der "Europäischen Bewegung Deutschland" im Dezember 2012 unternommen haben. Gut, nicht jeder muss ja die historische Semantik der societas civilis und der politiké koinonia (πολιτική κονωνία) bis zur civil society überblicken. Vielleicht sollte man in diesem Fall nicht ganz so bildungsstolz auftreten. Richtig ärgerlich wird es aber, wenn Engagement, Mut und Opferbereitschaft einer Vielzahl von Akteuren der griechischen Zivilgesellschaft mit einem Federstrich entwertet wer-den – um am Ende die eigene Organisation als Ge-burtshelfer einer griechischen Zivilgesellschaft und Empfänger eines ordentlichen Anteils an den derzeit reichlich fließenden Hilfsmitteln anzuempfehlen.

Nach einem Jahr in Griechenland als Leiterin des neu eröffneten Büros der Heinrich-Böll-Stiftung sind meine Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen ganz anders: In Griechenland gab und gibt es eine lebendige zivilge-sellschaftliche Szene, gibt es Bürgerinnen und Bürger, die sich in lokalen wie überregionalen gemeinwohlorientierten Organisationen zur Verteidigung von Menschen- und Minderheitenrechten, für den Umweltschutz oder für die Verteidigung und Entwicklung sozialer Rechte oder andere soziale Belange einsetzen. Es ist unüber-sehbar, dass seit dem Ausbruch der Krise zivilgesell-schaftliche Selbstorganisationen geradezu aus dem Boden sprießen. Ohne sie ginge es dem Land heute sicherlich viel schlechter.

So finden wir heute neben den großen internationalen NGOs wie dem WWF, Amnesty International, Green-peace, Transparency International, deren Sektionen seit Jahrzehnten in Griechenland arbeiten, mehr oder weniger professionalisierte zivilgesellschaftliche Orga-nisationen mit unterschiedlichem Organisationsgrad, deren Entstehung sich vor allem dem offenkundigen Versagen staatlicher (Wohlfahrts-)Institutionen, aber auch dem Zusammenbruch des Marktes verdankt. Die griechische Zivilgesellschaft gibt Gelegenheit, über die gewohnten kategorialen Entgegensetzungen von Zivilgesellschaft und Staat und Zivilgesellschaft und Wirtschaft bzw. Markt nachzudenken.

In der Krise trennen sich Spreu und Weizen. Über Jahre hatten sich die griechischen Regierungsparteien, besonders unverblümt die PASOK, ein Netzwerk scheinbarer NGOs gehalten oder gefördert, die in zahlreiche öffentlich finanzierten Projekten und Unternehmungen eingebunden wurden. Dadurch sollte zum einen der Nachweis zivilgesellschaftlicher Beteiligung an bestimmten Projekten erbracht werden; vor allem aber ließen sich auf diesem Weg im großen Stil nationale bzw. europäische Fördermittel in private Taschen, gelegentlich auch in Parteikassen lenken, während das geförderte Projekt meist nie so richtig zustande kam. Dieses Spiel hat die Europäische Kommission über viele, viele Jahre mitgespielt. Die Mittel mussten ausgeschüttet werden – das war der Maßstab des Erfolgs; unzureichende Kontrollmechanismen täuschten eine hohe Absorptionsfähigkeit von Staat und Gesellschaft Griechenlands für diese Mittel vor. Nun aber scheint diese Methode an ihr Ende zu kommen. Die „GONGOs“ (government organized non-governmental organizations) sind nach dem Versiegen der Zuschüsse verschwunden und haben in der griechischen Öffentlichkeit, die ohnehin kein Vertrauen zu Staat und Parteien hat, auch noch ein tiefes Misstrauen gegenüber der gesamten NGO-Szene hinterlassen.

Das ändert aber nichts daran, dass es die echten NGOs noch gibt und neue entstehen – die zivilgesell-schaftlichen, meist grassroots Organisationen, die vielfach seit Jahren zur Zivilisierung Griechenlands beitragen. Das soziale Engagement ihrer Mitglieder ist nicht abhängig von staatlichen Zuwendungen. Ihre Aktivistinnen und Aktivisten engagieren sich unter meist sehr schwierigen Bedingungen ehrenamtlich und uneigennützig.

 

Menschenrechte

Im Bereich der Verteidigung und Durchsetzung der Menschenrechte gibt es in Griechenland größere und kleinere Organisationen und Netzwerke wie die Grie-chische Liga für Menschen- und Bürgerrechte (www.hlhr.gr), der Griechische Flüchtlingsrat (www.gcr.gr), PRAKSIS (www.praksis.gr), ARSIS (www.arsis.gr), Antigoni (www.antigone.gr) oder Symbiosis (www.symbiosis.org.gr), um nur die bekannteren zu nennen. Sie alle setzen sich seit vielen Jahren für die Wahrung der Menschenrechte, besonders sozial schwacher und schutzbedürftiger Menschen ein und leisten so unschätzbar wertvolle Arbeit. In den letzten Jahren engagieren sich Ärzte und Ärztinnen „ohne Grenzen“ und versorgen in überfüllten Praxen Flüchtlinge und Papierlose sowie alle Menschen, die keinen Anspruch auf die Leistungen des staatlichen Gesundheitssystems haben bzw. ihren Anspruch verloren haben. Andere unterhalten Gästehäuser und geben somit minderjährigen Flüchtlingen, Straßenkindern oder Haftentlassenen ein Dach über dem Kopf. Andere wiederum setzen an der Bildung an und führen Workshops mit Kindern und Erwachsenen an Schulen oder in benachteiligten Stadtteilen durch. Schließlich gibt es das Engagement für die Rechte von Frauen, die Gleichstellung der LGBT-Menschen und gegen die bedrohlich gestiegene Gewalt gegen Frauen und LGBT-Menschen.

Will man genauer hinschauen, findet man solche Projekte und Initiativen zigfach in den großen und kleineren Städten. Sie eint die Ausrichtung ihres Handelns an den Menschenrechten, an den Werten Freiheit (nicht nur des global mobilen Kapitals, sondern auch der Bewegung der Menschen über Grenzen hinweg), Gleichheit mit Bezug auf das Recht zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse wie Essen, Gesundheit und Obdach, Toleranz und Respekt gegenüber jedweder religiösen und sexuellen Orientierung sowie Partizipation als grundlegendem Recht und ziviler Pflicht zum Selbsthandeln. Das gilt ganz besonders für die NGOs, die sich für Flüchtlinge, Asylsuchende, Migrantinnen und Migranten mit und ohne Papiere einsetzen. Dazu muss man wissen, dass sich Griechenland in den vergangenen 20 Jahren von einem Auswanderungsland zu einem Land gewandelt hat, das zunächst zum Zielland für Arbeitssuchende aus den benachbarten südosteuropäischen und postsozialistischen Staaten wurde und in das nun seit 10 Jahren in großem Umfang Kriegs- und Krisen-flüchtlinge aus außereuropäischen Ländern über die grüne Grenze (meist zur Türkei, mit der sich die EU nicht um den Preis einer Visa-Liberalisierung für türki-sche Staatsbürger auf ein gemeinsames Grenzregime verständigen will) einwandern. Nach zwei Jahrzehnten Zuwanderung wurde Griechenland von einem Auswanderungsland mit 1 Prozent Ausländeranteil zu einem Einwanderungsland mit einem Ausländeranteil von mehr als 12 Prozent der Bevölkerung. Hier war binnen weniger Jahre eine Integrationsleistung gefordert, für die andere Länder wie die Bundesrepublik mehr als ein halbes Jahrhundert Zeit hatten. Und hier werden finanzielle und institutionelle Ressourcen benötigt, die im Zuge der Finanz- und Systemkrise Griechenlands vollends zu versagen drohen. In dieser Situation der Überforderung sind Institutionen des griechischen Staates teilweise „gekippt“: Besonders Gerichte, Polizei und Innenverwaltung haben teilweise selbst grundlegende menschenrechtliche und darüber hinaus europarechtliche Standards nicht mehr gewährleistet, ja sie sind teilweise selbst einer rassistischen Agenda gefolgt.

Es ist dieses Staatsversagen und eine rassistische Praxis, der sich die griechische Zivilgesellschaft mit ihrem Kampf für eine Zivilisierung entgegenstellt. Darin liegt der große Unterschied zu den Zielen der nationalistischen und rassistischen Organisationen, die in den letzten 2 Jahren immer mehr mit ihren Hilfeangeboten und Solidaritätsaktionen in die Öffentlichkeit drängen. Auch sie nehmen für sich das Recht zur Selbstorganisation und zum Selbsthandeln in Anspruch. Doch ihre Essenstische „nur für Griechen“, ihre Angebote als „Ärzte mit Grenzen“ und ihre Hilfe für Obdach „für Griechen“ verlassen gerade die Grundlagen gleicher Rechte für alle Menschen und wollen die auf ihr errichtete Zivilität ganz hinter sich lassen. Erkennbar sind es also nicht die Selbstorganisation und das Selbsthandeln, nicht ein wie immer geartetes Assoziations-, Vereins- und Klubwesen, das die griechische Zivilgesellschaft prägt, sondern nur ein lebendiges demokratiefreundliches Assoziations- und Vereinsleben, das einen schwachen oder unwilligen Staat im Kampf um Zivilisierung ergänzt und sein Handeln durch Partizipation und Kooperation auch direkt beeinflusst. Auch hier gilt: Die Gegenüberstellung von Staat und Zivilgesellschaft ist nicht prinzipieller Natur, sie ist dem Versagen des Staates in konkreten historischen Situationen geschuldet.

 

Umweltschutz

Schaut man sich die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten für den Schutz von Natur und Umwelt an, findet man ebenfalls eine Vielzahl institutionalisierter NGOs, bei-spielsweise das Netzwerk MesogeiosSOS (http://medsos.gr), das sich seit 15 Jahren der nachhal-tigen Wasserbewirtschaftung widmet, oder die „Ökolo-gische Recycling Gesellschaft“ (www.ecorec.gr), die im Bereich der nachhaltigen Müllentsorgung Pionierarbeit leistet und damit eines der ganz großen ungelösten Probleme Griechenlands angeht. Es gibt Umweltorganisationen, die sich für den Tierschutz und den Erhalt wild lebender Tiere engagieren, beispielsweise Arktouros (www.arcturos.gr) und Kallisto (www.callisto.gr), oder der Verein Achelon (www.archelon.gr), der sich für die bedrohten Wasser-tiere wie die Wasserschildkröte einsetzt.

Mehr aktivistisch sind unzählige lokale Bürgerinitiativen und Protestgruppen an verschiedenen Orten unterwegs, die sich dem Raubbau an den natürlichen Ressourcen oder unsinnigen Straßenprojekten und Vorhaben widersetzen und eine zukunftsfähige Politik einfor-dern, die mit dem Schutz der Umwelt die Freiheit des Handelns der Menschen für die Zukunft sichern will.
Beim Kampf der Menschen von Ierissos und Skouries und vieler Aktivistinnen und Aktivisten aus ganz Grie-chenland, die im Norden Griechenlands gegen die Inbetriebnahme einer alten Goldmine kämpfen, geht es schließlich um beides: um die Furcht einer Region, die von Tourismus, Landwirtschaft und Fischfang lebt, vor der Verseuchung von Grundwasser und Meer durch Cyanid, das für die Geldgewinnung eingesetzt wird. Zugleich wird hier exemplarisch die Auseinandersetzung mit staatlicher Korruption geführt, die in diesem Fall einem bekannten griechischen Familienclan für einen Spottpreis die staatliche Schürflizenz übereignete, die dieser nun für ein Vielfaches an einen kanadischen Konzern weiterverkauft hat, der nun seine Schürfrechte durch ein gewaltiges Polizeiaufgebot gegen den Protest der Menschen durchsetzen will.

Soziale Ökonomie

Auch die Gegenüberstellung von Zivilgesellschaft und Wirtschaft bzw. Markt ist in Griechenland nicht prinzipi-eller Natur. So wie der griechische Staat nicht nur Widerpart der Zivilgesellschaft ist, sondern immer auch als Verbündeter und Garant von Freiheit und Gleichheit und als Schutz vor Übermacht gesucht wird, so kann auch das wirtschaftliche Handeln für den Markt zivile Werte befördern.

In Griechenland gibt es eine lange Tradition von Kooperativen vor allem im Agrarbereich. Doch diese Kooperativen haben sich großenteils durch unlautere Praktiken stark diskreditiert: Sie schulden dem Staat Millionen Mehrwertsteuer, sind ohne diese „Subvention“ unwirtschaftlich und lösen sich in der Krise massenhaft wieder auf.

Dadurch wurde der Genossenschaftsgedanke empfindlich diskreditiert. Doch in der Krise lebt er an anderen Orten auch wieder auf. Dabei wird er begünstigt durch den neuen Rahmen des Gesetzes zur Förderung der Sozialen Ökonomie von 2010. Damit entsteht eine neue Chance für lokale Initiativen, auf der Grundlage von fairen demokratischen Regeln als Teilhaber sozialer gemeinwohlorientierter Betriebe wirtschaftlich aktiv zu werden. Trotz fehlender staatlicher Unterstützung und des Fehlens eines Mikrokreditsystems haben sich bereits mehr als 120 solcher kooperativer Kleinbetriebe registriert, zahlreiche weitere werden gerade gegründet. Ihr Geschäftsfeld ist die Erbringung sozialer Dienstleis-tungen in den verschiedensten Bereichen (Weiterbil-dung, Gesundheit und Pflege, Kultur etc.) oder die Vermarktung von Produkten, der Erhalt traditioneller Berufe und Ressourcen (wie Pflanzensamen) und der Schutz der Umwelt (z.B. Energiegenossenschaften). Solche soziale Unternehmungen erstrecken sich von kleinen Frauenkooperativen zur Vermarktung selbst-hergestellter Regionalprodukte über Kooperativen von Bauern und Konsumenten für den Direktverkauf land-wirtschaftlicher Produkte bis hin zum Angebot von Dienstleistungen rund um das Fahrrad, von der genos-senschaftlichen Zeitung der Redakteure bis zum öffentlich viel beachteten Experiment der Beschäftigtengenossenschaft des bankrotten Baustoffherstellers Vio.Me in Thessaloniki, die erstmalig in Griechenland den Versuch unternommen hat, einen Betrieb zu übernehmen und auf genossenschaftlicher Basis selbstverwaltet zu retten.

Hinzu kommen noch zahlreiche lokale, dezentrale Umsonstmärkte und Tauschringe mit Regionalwährungen, durch die die Menschen in griechischen Provinzen und Städten neue Modelle solidarischen Handels und Wirtschaftens erproben und praktizieren. Vieles ist hier noch im Fluss, es bleibt abzuwarten, welche der zahlreichen Initiativen Bestand haben werden. Für eine Idealisierung gibt es keinen Grund. Dennoch tut es den Menschen in Griechenland, die sich aus der Krise mit neuen Wegen und Mitteln befreien wollen, gut, wenn das europäische Ausland sie zur Kenntnis nimmt, ja zur Solidarität mit ihnen aufruft.

Meistens spielt bei ihren Unternehmungen die ideologische Entgegensetzung zum Markt, insbesondere zum globalen Finanzmarkt keine Rolle. Es genügt, dass der Finanzmarkt für die Vorhaben der sozialen Ökonomie kein Geld zur Verfügung stellt und deshalb andere Modelle der Finanzierung und Verantwortungsübernahme erforderlich macht, mit denen der Kampf gegen Arbeitslosigkeit und die soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung der Schwachen und Schwächsten geführt werden kann. Im Vordergrund der aktuellen Auseinandersetzungen steht dagegen eher der Konflikt mit dem griechischen Staat, der sich weigert oder nicht in der Lage sieht, mit einer Novelle auch die steuerrechtlichen Grundlagen für genossenschaftlich-wirtschaftliches Handeln zu legen, bei dem die Menschen vor dem Profit rangieren.

All diese positiven Entwicklungen dürfen nicht ignoriert werden. Die Menschen in Griechenland brauchen Selbstvertrauen und Mut. Und sie brauchen Zuspruch – keine arrogante Entwertung. Doch auch diese hoff-nungsvollen Entwicklungen der griechischen Zivilge-sellschaft können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie einen verlässlichen Rahmen maßvoller staatlicher Institutionen benötigt – maßvoller Institutionen, die nicht die private Wirtschaft und das zivilgesellschaftliche Leben durch einen überbordenden Staatsapparat ausbeutet; aber eben auch verlässlicher Institutionen, die einen Rahmen setzen, die Reichen nicht schamlos bevorteilen, sondern die Schwachen schützen und verhindern, dass Zivilgesellschaft zu einem Spielfeld durchsetzungsstarker privater Interessen wird.

Thessaloniki, Mai 2013